Hier ist der zweite Teil von Jessicas Blogbeitrag darüber, “was es bedeutet “fett” zu sein”. Hier gehts zum ersten Teil.
Da mir die Sache keine Ruhe ließ, wollte ich mich (fest entschlossen) am nächsten Tag mal wieder auf die Waage stellen. Auge in Auge mit meinem größten Feind. Doch so wie es auch manchmal im richtigen Leben ist, nämlich wenn Stille mehr sagt, als jedes gesprochene Wort, war es auch an diesem Morgen. Denn die Waage zeigte mir keine Zahl, nur drei ernüchternde Querstriche. Was in diesem Fall entweder darauf hindeutete, dass die Waage kaputt ist, oder dass mein Gewicht einfach über dem maximalen Höchstgewicht von 150 Kilo lag. Ersteres wäre mir definitiv lieber gewesen. Also bin ich los, mir eine neue Waage kaufen – maximale Belastung diesmal 200 Kilo. Allein der Kauf der Waage an der Kasse war Hölle für mich. Zuhause angekommen, stellte ich mich sofort drauf und ja, Schockmoment meines Lebens würde ich es mal bezeichnen. Drei knallharte Zahlen. 175. 175. 175. Einhundertfünfundsiebzig Kilo. Ach du meine F*****. Das konnte doch nicht ernsthaft richtig sein. Das war wohl der Moment, in dem ich mir nichts mehr schön geredet habe, keine Ausreden mehr gesucht habe, sondern einfach nur meine rosarote Brille abgesetzt habe. Das war wohl der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn eines wusste ich ab diesem Moment schlagartig
„Verdammt, Jessica. Du musst was tun – und zwar sofort!“.
Mehr als die Wildecker Herzbuben zu wiegen, ist wohl von der Ernüchterung her, kaum mehr in Wort zu fassen. Es war ein Schlag ins Gesicht. Aber ich habe ihn scheinbar gebraucht. Einige Zeit später habe ich erfahren, dass mein Top-Gewicht nicht 175 Kilo waren, sondern sogar 191 Kilo. Diese Zahl entdeckte ich auf einem alten Arztbrief aus dem Krankenhaus aus 2011, der mir beim Aufräumen in die Hände fiel – ich hatte ihn damals nichtmal geöffnet, da ich nicht wissen wollte, was für schlimme Sachen über meinen Körper darin stehen. Ich wurde damals von einer Krankenschwester gewogen, hatte aber gar nicht erst nach der Zahl gefragt und sie hatte sie mir auch nicht gesagt, sondern nur stillschweigend ausgeschrieben. Im Nachhinein wäre das wohl besser gewesen, hätte sie sie nochmal laut wiederholt. Hätte ich damals gewusst, dass ich 191 Kilo wiege, wäre ich wohl sofort hinten über gekippt. Aber die 175 Kilo dann in 2012 waren für einen Schock auch mehr als ausreichend.
Aber wieder zurück zu meinem Schlüsselerlebnis im Sommer 2012. Nachdem ich die Gewissheit über mein aktuelles Gewicht hatte, begann ich direkt an diesem Tag noch mit der Umstellung meiner Ernährung. Zu diesem Zeitpunkt vertrat ich noch die gängige Meinung „Wer abnehmen will, muss wenig essen“. Also reduzierte ich einfach drastisch meine Kalorienmenge. Das lief auch eine Zeit lang wirklich super und ich konnte schnell gute Erfolge erzielen.
Doch mit einer Ernährung von nur knapp 800 kcal am Tag wird man auf Dauer weder glücklich, noch schlank.
Denn unkontrollierte Fressanfälle waren da einfach vorprogrammiert und sobald man wieder aß wie vorher, schnellte das Gewicht umgehend wieder nach oben. Es verging einiges an Zeit und ich probierte so circa jede Diät, die es auf dem Markt gab, aus. Es dauerte lange, bis ich erkannte, dass es eine dauerhafte Ernährungsumstellung war, die ich brauchte, um langfristig gesund leben und an Gewicht verlieren zu können. Irgendwann stieß ich über das Internet auf die Ernährungsform „Low Carb High Fat“ und war sofort begeistert. „Gesunde Fette essen um abzunehmen“ – hörte sich interessant an und entsprach so gar nicht dem, was in den ganzen Diät- und „Low Fat“-Büchern angepriesen wurde. Aber vielleicht reizte es mich ja gerade deshalb so.
Nach einer gewissen Einlesezeit und Beschäftigung mit der Materie begann ich, mich nach diesem Prinzip zu ernähren. Ich merkte, wie mein Wohlbefinden anstieg und ich endlich wieder Freude an Essen und Ernährung entwickeln konnte. Meinem Körper ging es endlich wieder gut, nach so langer Zeit. Nahrung ist mehr als nur „Treibstoff“ für deinen Körper, den du gezwungenermaßen brauchst. Nahrung ist Lebensqualität. Die richtige macht dich glücklich, die falsche unglücklich und träge.
Im Laufe der Jahre gelang es mir so, mein Gewicht immer weiter zu reduzieren. Das Abnehmen machte mir plötzlich Spaß und ich kam immer mehr in den Genuss von Lob, Zuspruch und Begeisterung von außen. Was mich natürlich nur noch mehr motivierte, weiter am Ball zu bleiben. Mit der Zeit bzw. mit dem immer weiter sinkenden Gewicht, war es mir dann auch besser möglich, Bewegung und Sport in meinen Alltag zu integrieren. Verrückt, aber ich entdeckte wirklich das Fitnessstudio für mich. Ich, ausgerechnet ich – eine, die Sport sonst immer scheute.
Heute, knapp 4 Jahre später, kann ich einen Gewichtsverlust von knapp 100 Kilo verzeichnen und ich bin wahnsinnig stolz auf mich. Ich fühle mich so gut, wie noch nie zuvor. Mittlerweile ist es mir möglich, ein selbstbestimmtes, uneingeschränktes Leben zu führen und ich genieße jeden einzelnen Tag. Ich war plötzlich wie befreit, kein Gefangener mehr im eigenen Körper. Für nichts auf der Welt würde ich jemals wieder dieses neue Lebensgefühl eintauschen wollen.
Aber nicht nur deutliche körperliche Veränderungen konnte ich dadurch erzielen – ich habe mich auch persönlich sehr verändert und weiterentwickeln können. Ich bin jetzt stärker und selbstbewusst, kann ein selbstbestimmtes Leben führen und weiß, was ich will und was nicht. Ich vermeide den Kontakt zu „schlechten“ Menschen, die es nicht gut mit mir meinen und mache nur noch das, was mir gut tut und was MICH glücklich macht. Ich muss mich jetzt nicht mehr verstecken. Vielmehr kann ich wahnsinnig stolz auf mich sein und ehrlichgesagt, auch wenn die Jahre des Übergewichtes sehr hart waren, so haben sie mir doch einige Lektionen beigebracht über die ich froh bin. Nicht mal unbedingt auf Ernährung und den Körper bezogen, sondern vielmehr auf Menschen an sich. Ich habe ein gutes Gespür für Menschen entwickelt, die mir nicht gut tun und die es nicht gut mit mir meinen. Menschen, die andere Übergewichtige mobben und mit abwertenden Kommentaren zu nichte machen wollen, von denen distanziere ich mich grundsätzlich. Denn es sagt so viel über sie und ihr wahres Inneres aus – mehr als alles andere.
Es ist interessant, welche konträren Reaktionen ich seither von meinem Umfeld erfahre. Wo früher Lästereien, Ausgrenzung und Mobbing an der Tagesordnung waren, ist heute Freundlichkeit, Entgegenkommen und Integration. Das ist doch lächerlich, mal ehrlich. Schließlich bin ich doch noch die allergleiche Person wie damals. Nur eben in einem schlankeren Format. Traurig, aber wahr – wenn nicht sogar beängstigend.
Plötzlich interessieren sich Menschen für dich, die dir vorher nur den Rücken zugedreht haben.
Jetzt bist du interessant für sie, schließlich bist du ja jetzt nicht mehr eklig, fett und faul. Super, eeeeeendlich darf ich Teil von euch sein. Aber nein, falsch gedacht. Das will ich nämlich schon lange nicht mehr. So Menschen mag ich einfach nicht. Ich finde – ganz gleich wie ausgelutscht dieser Satz mittlerweile sein mag – jeder sollte gleich behandelt werden, ungeachtet seiner äußerlichen Erscheinung. Der Körper ist letztlich nur die Hülle deines Geistes. Das wahre Juwel bist du selber, deine Persönlichkeit, dein Charakter – einfach dein Innerstes. Ein schöner Körper macht noch lange keine schöne Seele.
Ein weiterer Punkt, der oft im Zusammenhang mit dem Abnehmen auf den Tisch kommt, ist die Angst vor möglicher hängender Haut. Und wie ihr vielleicht schon merken konntet, will ich hier nichts beschönigen und euch etwas vormachen. Bei mir ist es so, dass ich durch die Abnahme einen massiven Hautüberschuss an den betroffenen Partien habe. Diesen möchte ich aber noch operativ entfernen lassen. Aber ehrlichgesagt war die Angst vor hängender Haut nie ein Grund für mich, nicht mit dem Abnehmen zu beginnen. Zwar stört sich mich jetzt, das ist Fakt, aber es ist immernoch weitaus besser als hängendes Fettgewebe. Ich bin froh, dass es heutzutage die Möglichkeiten zur operativen Entfernung gibt. Schlimm wäre es, ewig damit leben zu müssen und sie akzeptieren zu müssen.
Hm, was du denkst du jetzt gerade? Möchtest du am liebsten auch sofort anfangen und endlich was verändern? Vielleicht stehst du ja tatsächlich gerade vor dem Problem und fragst dich, wie du es wohl am besten anpacken könntest. Zu all diesen Leuten und zu dir, kann ich nur folgendes sagen: Finde eine Ernährungsform, die zu dir passt und die dir Spaß macht und mit der du LANGFRISTIG leben kannst. Lese dich gut ein und dann fang einfach an. Beweg dich außerdem und mache Sport – in dem Ausmaß, in dem es für deinen Körper möglich ist. Und gib‘ ja nicht auf, du wirst belohnt werden – ich verspreche es dir. Auch ich habe lange Zeiten des Stillstandes hinter mir, wo einfach mal monatelang rein gar nichts passiert ist. In so Momenten ist es einfach wichtig, am Ball zu bleiben und nicht die Flinte ins Korn zu werfen. Das geht aber wirklich nur mit einer Ernährungsform, die dich glücklich macht und nicht zu sehr einschränkt. Ich bin, wie gesagt, großer Verfechter von Low Carb und Paleo. Aber was am besten zu dir passt, musst du selbst entscheiden. Überleg‘ auf jeden Fall nicht zu lange und sieh‘ dem Teufelskreis weiter zu – denn worauf willst du warten.
Mein jetziges Leben war jeden einzelnen Tag meiner langen Reise wert. Jede Mahlzeit war es wert, jeder Verzicht war es wert, jeder einzelne Schritt war es. Auch die harten Tage, gerade die. Denn da ist es wichtig, am Ball zu bleiben.
Du denkst, du schaffst das sowieso nicht und dein Weg ist unerreichbar lang? Weg mit solchen Gedanken, denn Fakt ist, wenn du es wirklich willst, dann wirst du das auch hinbekommen! Solche Gedanken lassen dich nur deinen Fokus verlieren. Ein wirklich „ausgelutschter“, aber wahrer Spruch dazu ist: „Der Weg ist das Ziel!“. Und so ist es einfach. Jeder einzelne, noch so kleine, Schritt bringt dich deinem Traum ein Stückchen näher. Behalte das immer im Hinterkopf. Lass dich von niemandem davon abbringen.
Bei mir war es so, dass mich der Schmerz der ganzen vergangenen Jahre irgendwie erst recht stark gemacht hat. Auch wenn es absurd klingen mag. Ich wollte es allen Zweiflern und Gegenrednern endlich beweisen.
Beweise es all jenen, die dir dein Leben als vermeintlich „fette“ Person schwer gemacht haben – aber beweise es vor allem dir selbst!
Tatsache ist, nur du selbst kannst etwas ändern. Tu‘ es für dich – für deinen Körper, für deine Seele. Entkomme diesem verdammten Teufelskreis und befreie dich. Weil du kein Mensch dritter Klasse bist, weil du erste Klasse bist. Du hast es verdient, ein Leben in einem Körper zu führen, in dem du dich fucking wohl fühlst. Aber am meisten hast du es verdient, glücklich zu sein.
„Ganz gleich, ob du denkst du kannst etwas oder du kannst es nicht – du hast Recht“
Henry Ford
Ich habe eben beim Stöbern diesen tollen Erfahrungsbericht gelesen der mir so unheimlich aus der Seele sprach. Da ich seit Kindertagen an Übergewicht leide kenne ich auch die ein oder andere Geschichte die angesprochen wurde und habe auch Menschen kennen lernen müssen denen das Äußere wichtiger ist wie der Mensch selbst.
Deine Geschichte hat mir aber wieder Mut gegeben es niemals aufzugeben denn auch bei mir zeigen sich mittlerweile leider Krankheiten die durch Abnehmen verbessert werden können. Ich finde es schön das hier nicht eine Sache beworben wird wie es so oft in anderen Berichten zu lesen ist sondern ein ehrlicher wirklich hilfreicher und persönlicher Tatsachenbericht.
Danke dafür.
Daniela
Sitze grade auf der Arbeit und habe mir beide parts durchgelesen und muss mir das komische feuchte Zeug aus den Augen verkneifen… Genauso habe ich es erlebt und erlebe es teils immernoch – Tag für Tag – draußen beim Einkaufen (muss der dicke ne tüte chips kaufen?) oder auch auf der Arbeit.
Ich selbst hatte zu höchstzeiten 255 Kilo – und bin mittlerweile dank Disziplin und Magenverkleinerung(OP25.8.2015) auf 162 Kilo runter – und genieße dieses neue Leben Tag für Tag mehr – habe auch “Spaß” am Sport gefunden und hoffe das mein Weg mich zum ersten mal im Leben seid meinen Kindertagen auf eine Kleidergröße XL oder weniger bringt. Wenn ich bald die Kraft und den Mut habe, werde auch ich dir meine Geschichte schreiben. Danke das du – wie auch die leute deren Texte du hier veröffentlichst uns “dickeren” Mut gebt. So long – Björn